In den frühen Morgenstunden am S-Bahnhof Bachern findet eine nicht alltägliche Übergabe statt. Michaela gibt mir einen Karton mit Fußballschuhen für das Seebrücke Team. Ein kurzes Hallo und die Tür schließt sich wieder. Es ist der Tag des letzten Trainings und wir haben endlich alles Nötige für das Turnier zusammen. Auch die Trikots sind rechtzeitig geliefert worden.
Die Anmeldeformulare nerven, fast alle der Ukrainer im Team sind noch nicht volljährig. Die Eltern müssen unterschreiben, oder die große Schwester. Nach dem Training bin ich angeschlagen, körperlich wie mental. Eigentlich macht es großen Spaß Fußball zu spielen, aber an dem Tag spüre ich meine Grenzen.
Tag des Turniers. Er beginnt mit einer Nachricht von Momin aus Odelzhausen. ‚Ist das Turnier heute?‘. Etwas später, ich bin mit dem Fahrrad auf dem Weg zum Sportgelände des ASV Dachau, ruft er mich an. Er ist schon vor Ort und wo ich denn bleibe. Pünktlich um 8:30 Uhr bin auch da, das Turnier wurde auf den Kunstrasenplatz verlegt, soweit ist das aber kein Umstand. Die Organisation läuft, ich treffe auf Michaela. Und auf Teile meines Teams. Wo sind Daniil, Josef und Dmitri? Martin ist derweil eingetroffen und lässt sich mit der Prominenz fotografieren. Die Seebrücke ist auch offiziell vertreten. So warten wir etwa eine halbe Stunde, irgendwie regelt sich alles. Die vermissten Jungs treffen ein, alle haben ihr Formular ausgefüllt und endlich bekomme ich auch die Gutscheine für Wasser und Brot. Zum Gruppenfoto reicht es, wenn auch noch nicht alle ihr Trikot übergestreift haben. Ich schicke Masha und Zahar vor.
Langsam wird es ernst. Bis auf das Team vom KJR treten alle an. Anstatt in meiner Sportkleidung stehe ich mit Regenjacke und australischem Hut da, die Jungen sollen spielen und ich bin einfach nicht in Form. Vom Spielfeldrand habe ich die bessere Übersicht. Auf dem Feld stehen fünf Spieler und ein Torwart. Erste Aufstellung, erstes Spiel, höchste Niederlage dieses Tages. Das mit dem Auswechseln ist einfacher als gedacht, aber wir haben das nie geübt. Fast jede Auswechslung führt zu einem Gegentor. Die gegnerischen Mannschaften rotieren dagegen gekonnt. Es läuft nicht.
In der Zeit zum nächsten Spiel kommt Omid auf mich zu. Ihn hatte ich als Spieler für das KJR-Team am Tag zuvor eingeladen. Nun kann ich ihn für mein Team anwerben. Fußballschuhe hat er sich wohl spontan von seinen Freunden aus Gröbenried besorgt. Mit ihm sind wir im zweiten Spiel schon besser, er kann es noch, er läuft viel, kein Debakel. Aber Martin meint, unser Volodymyr im Tor könnte besser sein.
Der Kumpel von Daniil meldet sich, er war einfach als Zuschauer gekommen. Er will im Tor stehen. Trikot habe ich noch, Anmeldeformular auch, die Schuhe bekommt er vier Nummern zu groß von Volodymyr. Er ist froh diesen Job los zu sein. Und es funktioniert. Im legendären Spiel mit rosa Laibchen führen wir durch ein glückliches Tor. Und halten das Ergebnis, zumindest das Unentschieden. Doch wieder missglückt das Auswechseln, gerade weil die rosa Laibchen eine Notlösung waren. Wir verlieren wieder, aber legen an Hoffnung zu.
Unter besseren Bedingungen hätten wir das Spiel gewonnen. Masha und Zachar sind gut gelaunt, lachen und strahlen. Nur Daniil zieht sich mit enttäuschter Mine zurück. Er findet seine Stürmerrolle nicht, verliert Bälle, kann seine Schnelligkeit und seine Torgefährlichkeit nicht ausspielen. Er ist erst wenige Monate in Deutschland, ich brauche Hilfe um mit ihm zu reden. Wir bekommen das hin, in den restlichen Spielen hat er ein paar Szenen in denen er steil in den Raum geht und zu Torchancen kommt.
Am Nachmittag schaut auch Hubert vorbei, er bringt noch moralische Unterstützung mit. Jeder, der uns unterstützen kann ist höchst willkommen.
Wir haben nun Spiele gegen starke Mannschaften, ganz bewusst lasse ich die Kleinsten, Vanya und Dmitri, von Anfang an spielen. Omid und Momin stehen mit mir außerhalb des Spielfeldes. Ruslan bewährt sich im Tor, unsere ganz jungen Spieler sind schnell und beherzt. Aber gegen die beiden Indersdorfer Mannschaften reicht es nicht, um die Spiele spannend zu halten.
Vorletztes Spiel. Unser Gegner hat bisher nur einen Punkt. Ist das unsere Chance. Josef, unser einziger Profi, führt die Mannschaft ins Gefecht. Masha spielt von Anfang an. In dem Spiel wird auch nicht gewechselt. Endlich bin ich in meinem Element, ich rufe, schreie, dirigiere, lobe und hadere. Wir spielen gut, sind gleichwertig, das Team kombiniert auch. Momin rennt seine Seite rauf und runter. Masha und Omid gewinnen Zweikämpfe. Ruslan lässt im Tor nichts anbrennen. Josef rackert im Mittelfeld in Daniil lauert auf Chancen, geht keinem Zweikampf aus dem Weg. Es ist spannend bis zum Schluss. Es fällt kein Tor. Diesmal haben wir Erfolg, wenn gleich kein richtiger Sieg.
Aber das Team wächst zusammen. Und wer außer uns kann während des Turniers gleich zwei neue Leute gewinnen und integrieren? Und beinahe machen wir noch den Transfer von Volodymyr zum Team von Peter Barth aus Hebertshausen perfekt. Dessen Spieler müssen zur Arbeit.
Dass wir das letzte Spiel verlieren, mit einigen Gegentoren, das trifft uns nicht. Neugierig schauen wir auf die Halbfinal-Spiele und dann zum Finale Kroatien gegen Senegal drücke ich der Mannschaft von Mansor die Daumen. Er hat sein Team als Trainer engagiert und professionell ins Finale geführt. Man merkt ihm die Spannung an. Masha sagt ‚Senegal gewinnt‘. Und damit greift sie schon ins Schicksal ein. Mansor lächelt ob des unerwarteten Zuspruchs der jungen Ukrainerin. Die ganze Zeit bleiben wir hinter dem Tor der senegalesischen Mannschaft. Sie erzielen das Führungstor. Doch die Kroaten geben nicht auf, selbst als einer der ihren die Rote Karte bekommt. Das Spiel will nicht zu Ende gehen, noch stehen die Senegalesen hinten sicher. Doch kurz vor dem Ende können sie eine Großchance nicht abwehren. Der Schuss des kroatischen Spielers geht an die Latte. Aber Masha behält Recht, am Ende jubelt das Team von Mansor.
Sie bekommen den Pokal, und auch alle anderen bekommen eine Medaille und eine Urkunde. Und der Abend strebt einem weiteren Höhepunkt entgegen. Nämlich der Übergabe der Pizza in der Sportgaststätte des ASV. Nicht alle Teams treten hier nochmal an. Ich hatte gehört, dass wohl 50 Bleche mit Pizza gesponsert sind. In der ersten Welle halten wir uns noch zurück, doch dann übermannt die Ersten der Hunger und besetzen die Plätze in der Schlange am Buffet. Geschickt gebe ich ihnen Deckung, bekomme selbst noch zwei Stück Pizza ab. Dafür gebe ich gerne eine Runde Spezi aus. Nun kommt man auch ins Reden, Zahar hat echtes Sprachtalent. Obwohl er erst fünf Monate hier ist, klappt die Verständigung gut. Er übersetzt für die beiden 17-Jährigen, die noch weniger lange hier sind. Sie haben andere Sorgen als die ukrainischen Jugendlichen, die ich seit April 2022 kenne. Wenn sie zurück in die Heimat gehen, können sie für den Krieg gemustert werden. Es sind diese Momente, in denen man sich bewusst wird, was wichtig ist. Warum man sich im Rahmen der Seebrücke engagiert. Und in denen man auch sauer auf die Deutschen ist, die immer nur klagen und sich überfordert sehen.
Masha sagt, dass es ein toller Tag war und sie sehr froh darüber ist. Dmitri steht ab und zu auf und hofft seinen leeren Teller doch noch mal füllen zu dürfen. Und sein Instinkt trügt ihn nicht. Zwanzig Minuten später gibt es eine letzte Blechrunde, diesmal sind auch Pilze auf der Pizza. Und die Jungs und Masha haben immer noch Hunger, zwingen mich geradezu bei ihnen mitzumachen … Und nochmal rührt mich etwas an. Dmitri packt zwei große Stücke für seinen Bruder zuhause ein. Dmitri ist zwölf und ich bin stolz auf ihn.
Ich bin gestärkt, körperlich wie mental.
Stefan Haas, Ende September 2023