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Wenn das Leben immer weniger wird

Es ist kurz vor Weihnachten als ich einen Anruf bekomme. Eine Frau meldet sich, es ist Anne, mittlerweile kenne ich sie auch persönlich. Sie macht sich große Sorgen um einen jungen Geflüchteten, den sie psychotherapeutisch betreut. Mit der Zeit lernt sie ihn besser kennen, versteht, dass er sich seit Jahren komplett zurück zieht und keine Freude hat.

Ende 2020 wird er von Schwabhausen nach Gröbenried verlegt. Das ist die Zeit, als die Pandemie noch ohne die Möglichkeit der Impfung grassiert. Im Helferkreis sind uns alle Hände gebunden, niemand von uns kann ihm und anderen zu dieser Zeit auch nur Hallo sagen. Im Rückblick wissen wir, dass die Caritas zeitweise guten Kontakt mit Chimamkpa, so heißt er, hat.

In seiner Heimat ist seine Familie vor knapp 10 Jahren in eine traumatische Gewalttat verwickelt, seine nächsten Verwandten werden ermordet. Verletzt entkommt er, mit gerade mal 20 Jahren. Er schaut heute nicht viel älter aus. Als Außenstehender sieht man ihm nichts von seinen inneren Verletzungen an, außer eben der verkrüppelten Hand. Aber er ist sehr krank, braucht Medikamente, um über seine Krisen zu kommen. Vor der Verhandlung am Amtsgericht Dachau sehe ich ihn zum ersten Mal bewusst. Bei der Eingangskontrolle wird er penibel durchsucht. Aber das macht man mit mir auch.

Diese Verhandlung ist der Grund warum Anne mich um Hilfe bittet, es droht ihm Gefängnis. Chimamkpa ist Analphabet, kann gerade etwas Englisch und um was es geht, wissen wir halbwegs nur aus den Schreiben von den Behörden. Er lebt in seiner eigenen Welt, überfordert von dem was ihm vor langer Zeit passiert ist, überfordert von den Mitbewohnern, die auch mal laut sind. Die meisten suchen sich Hilfe, fallen auf, wenn sie etwas nicht verstehen und mit etwas Glück können wir vom Helferkreis manche Dinge in normale, behördengerechte Bahnen lenken. Bei Chimamkpa ist das anders, er möchte niemanden zur Last fallen, hat auch gearbeitet, war dort zumindest angenommen. Seit einigen Jahren wird ihm die Arbeitserlaubnis nicht mehr gegeben. Er hat keinen Pass und bekommt 2021 deswegen eine Strafe. Mit einer zu hohen Anzahl an Tagessätzen ist man in Deutschland ein Straftäter. Man bestraft ihn schwer, weil er sich nicht um einen Pass bemüht. Man macht ihm klar, dass er dies alles könne, wenn er nur wolle.

Aber so klar ist es dann eben doch nicht. Urteil und Unterlagen hat man ihm vermutlich mündlich übersetzt, er unterschreibt immer, dass er alles verstanden hat, wenn man ihn dazu auffordert. So genau will es niemand wissen, ob das alles stimmig ist. Der Kontakt zur Caritas ist zu der Zeit schwieriger geworden, die Zuständigkeiten sind plötzlich andere, die Botschaft seines Herkunftslandes in Berlin sucht er vergeblich auf. Er verdrängt in Folge einfach, welche Schwierigkeiten er hat, abgesehen von denen, die ihn schon so lange traumatisieren. Es klappt schon noch, dass er in die Praxis von Anne vermittelt wird. Ihr vertraut er und sie engagiert sich über ihre Arbeit hinaus für ihn. Sichtet seine Unterlagen, bekommt das Geld für einen Anwalt zusammen. Hier springt der Pfarrverband Bergkirchen-Schwabhausen ein, Chimamkpa ist Katholik und man kennt ihn noch. Martin beantragt beim Landratsamt Akteneinsicht, so bekommen wir langsam einen Überblick. In den Tagen vor der Verhandlung bessert sich auch der Kontakt zur Anwaltskanzlei, Anne kann alle medizinischen Gutachten nachvollziehbar zusammen schreiben.

Vor allem schafft sie es, dass die Verhandlung am 7. Februar 2023 vor dem Amtsgericht Dachau keine Katastrophe wird. Der Straftatbestand der Passlosigkeit kann freilich nicht ausgeräumt werden. Aber der Richter erkennt, welche Umstände ihn in diese Situation gebracht haben. Eine Bewährungsstrafe mit 60 Stunden Sozialarbeit ist nahezu ein gutes Urteil, vor allem weil die Berichte der Psychotherapeutin zur Kenntnis genommen werden.

Den Pass zu beantragen und zu bekommen, wird er mit Annes Hilfe schaffen. Es gibt auch Hilfe von erfahrenen Helfern aus Dachau. Ob Deutschland ihm ein Recht gewähren wird, hier zu bleiben, eine Chance gibt, ist unwahrscheinlich. Aber es ist nicht komplett hoffnungslos. Nach der Verhandlung trinken wir noch zusammen Kaffee, reden auch über normale Dinge. Er ist wirklich ein freundlicher Kerl. Sehr unsicher, aber er merkt noch, wenn man ihm nichts Böses will. Noch findet sich ein Lächeln in seinem Gesicht.

Ich hoffe, dass die wenigen Dinge, die wir für ihn tun können, ihm etwas Mut machen. Bei der Caritas hat er wieder eine Ansprechpartnerin, die ihn versteht und der er vertraut. Über sie hat er die Möglichkeit wieder einen Alphabetisierungskurs zu belegen und er geht nach ersten Rückmeldungen auch hin. Eine Operation könnte ihm die Funktion seiner Hand wieder herstellen. Mit etwas Glück kommt Chimamkpa wieder auf einen Weg in ein normales Leben.

Was mir Sorge macht ist, dass Recht und Ordnung alleine nicht ausreichen. Wenn die Lebensfreude in den Menschen erlischt, dann haben wir wieder versagt.

Gleichgültigkeit ist unser größtes Problem.


Stefan Haas,
Koordination Asylhilfe Bergkirchen