Und ich werde alles tun, damit Gabriel wieder eine Zukunft erhält

Mein Name ist Julie Richardson. Ich bin psychologischer Fachdienst in der Heilpädagogischen Tagesstätte des KINDERSCHUTZ MÜNCHEN. Ich kenne Gabriel bereits seit seiner Kindergartenzeit, er besuchte von Beginn an eine Therapiestunde bei mir. Aufgrund seiner freundlichen und lustigen Art bauten wir schnell einen positiven Kontakt auf. Zusammen mit einer Kollegin führte ich zudem die Elternarbeit durch – vor allem mit Frau Ilhobe, der Mutter von Gabriel, weil der Vater arbeiten war. Im Zuge der Elternarbeit stellten wir schnell fest, dass Frau Ilhobe sehr belastet war und Symptome einer Traumatisierung aufwies. Über den Aufenthaltsstatus konnte sie nur unter Tränen sprechen.

Während Gabriel in der Vorschulgruppe noch zurückhaltend war, lebte er sich in der Schulgruppe sehr schnell ein, fand bald Freunde und war beliebt. Als wir erfuhren – leider erst sehr spät -, dass die Familie von Abschiebung bedroht war, fertigten seine Freunde eine ganze Mappe von Unterstützungsschreiben an – mit Foto, einer Zeichnung und dem Grund, weshalb Gabriel ihr Freund ist.

Daniil beispielsweise ist sein Freund, weil Gabriel so viel lacht und weil sie so schön spielen. Dieser Junge hat später einen Teil seines Ersparten gespendet, um Gabriel wieder zurückzuholen.

Beim Rausgehen war Gabriel gerne dabei. Er liebte das kühlere Wetter, die Hitze hat ihm stets zu schaffen gemacht. Er ist Asthmatiker.

Im Herbst 2021 erfuhren wir, dass die Familie Gefahr lief, abgeschoben zu werden. Wir waren fassungslos. Bei Familie Esiovwa handelt es sich um Menschen, welche wir in unserer Tagesstätte sehr gern gesehen haben. Sie waren freundlich, kooperativ, zuverlässig. Gabriel kam stets gepflegt und gut ausgerüstet mit dem nötigen Arbeitsmaterial in die Tagesstätte. Wenn er zu Hause etwas nacharbeiten sollte, sorgten Vater und Schwester dafür. Wir hofften, dass die Familie bleiben könne – nicht nur, weil es sich um angenehme Menschen handelt, sondern auch, weil allein der Gedanke an eine Rückkehr nach Nigeria vor allem bei Frau Ilhobe eine große Panik hervorrief. Herr Esiovwa zeigte sich eher sehr deprimiert. In der Nacht zum 12. Juli 2022 wurde ihr Alptraum leider Wirklichkeit.

Bis dahin haben wir alles versucht, um die Kriterien des Ethikrates zu erfüllen. Als Herr Esiovwa uns im März 2022 mitteilte, dass durch den Entzug der Arbeitserlaubnis eine Abschiebung immer wahrscheinlicher werde, nahm ich Kontakt zur Anwältin der Familie auf, von deren Existenz ich erst zu diesem Zeitpunkt erfahren habe. Von da an wurden Unterstützungsschreiben, medizinische Unterlagen, Zeugnisse und vieles mehr, von dem angenommen wurde, dass es helfe, gesammelt und an die Anwältin geschickt. Am Ende fehlten noch zwei Unterlagen für Frau Ilhobe (Unterstützungsschreiben, Nachweis Sprachkurs). Letzteres erwies sich als kompliziert, da sich kurz davor herausgestellt hatte, dass es sich bei Frau Ilhobe um eine Analphabetin handelt. Zudem erfuhr ich aus den medizinischen Unterlagen, dass beide Elternteile gesundheitlich stark belastet sind. Herr Esiovwa ist unter sauber eingestellter Medikation voll erwerbsfähig. Bei Frau Ilhobe hingegen lag eine Überweisung in ein Tumorzentrum zur Diagnostik vor. Sie litt und leidet bis heute unter starken Schmerzen. Laut Herrn Esiovwa sollte es Frau Ilhobe – laut Ausländerbehörde – auf jeden Fall noch erlaubt sein, den diagnostischen Prozess abzuschließen. Sowohl der Flüchtlingsrat, Herr Dünnwald, als auch ich sahen so ausreichend Zeit, um die letzten Voraussetzungen für den Ethikrat zu schaffen. Dies war leider eine Fehleinschätzung.

Am 12. Juli 2022 fehlte Gabriel unentschuldigt in der Tagesstätte. Dies war noch nie vorgekommen. Nachdem die Familie nicht erreichbar war, informierte ich an diesem Tag Anwältin und Flüchtlingsrat und fuhr nach der Arbeit in die Unterkunft der Familie Esiovwa. Nachdem ich geklingelt hatte, öffnete mir ein freundliches Paar mit Baby. Von Familie Esiovwa keine Spur! Der nette Mann erklärte mir, dass die Familie in der Nacht abgeholt worden war. Der Schock saß tief.

Der weitere Verlauf wurde ausführlich in der Presse geschildert. Aus meiner Sicht kann ich nur sagen, dass Gabriel nicht nur aus einem für ihn überaus wichtigen, therapeutischen Setting gerissen wurde, sondern auch sein soziales Netz verlor, welches ihm Sicherheit und Geborgenheit vermittelte. Mein Team und ich investieren viel Arbeit in die Entwicklung des Kindes, man geht mit ihm durch dick und dünn, plant die weitere Perspektive akkurat. Während des jahrelangen Aufenthaltes entsteht eine Beziehung, die durch Vertrauen und Verantwortungsgefühl gekennzeichnet ist. Dann kommt der Tag, an dem die Kinder entlassen werden. Dies wird meist schon Monate davor vorbereitet. Das Kind und auch die Familie sollen seelisch auf den Abschied vorbereitet sein. Es findet ein abschließendes Hilfeplangespräch mit dem Jugendamt statt. Es wird ein Hilfeprozessbericht geschrieben, dem man die bisherige Entwicklung und die auf eine bestmögliche Zukunft abzielenden, letzten Empfehlungen entnehmen kann. Für Gabriel und sein soziales Netz gab es diese Verabschiedung nicht. Auch für mich fühlt es sich daher so an, als sei er noch immer mein Therapiekind, und ich werde alles tun, damit er wieder eine Zukunft erhält.

Gabriels Betreuerin hat ihm seine liebsten Spielsachen nach Nigeria geschickt. Sie kamen rechtzeitig zu seinem 11. Geburtstag im März an. Beim Auspacken hat er sich noch gefreut, aber seine Freude hält nicht lange an, denn es erinnert ihn an daheim.

Gabriel und seine Schwester Claudia: Die Kinder haben sich verändert. Beide waren immer lebhaft und fröhlich.

Momentan ist die Sorge um die kindlichen Seelen groß: Depressive Verstimmtheit und Schlafstörungen weisen auf die Folgen der traumatischen Erfahrung hin, welche eine Abschiebung für Menschen, vor allem für kleine Menschen, darstellt. Die gesundheitliche Belastung beider Elternteile, deren angemessene Behandlung in Nigeria fast unmöglich ist (ungeeignete, jedoch teure Medikamente, Selbstzahler), stellt zudem eine große Gefahr für die drei minderjährigen Kinder dar. Was geschieht mit den Kindern, sollte sich der gesundheitliche Zustand der Eltern verschlechtern? Wir müssen die Familie heimholen, damit wieder eine Zukunft möglich wird für die Familie Esiovwa und damit der Kinderschutz wieder gewährleistet werden kann.